Würde ... Das klingt so altmodisch wie Unterröcke mit Spitzen. Es erinnert an die Würdenträger von früher. Damals hatte Würde eine Hierarchie, nämlich besagte Würdenträger, Männer, Frauen, Kinder; dazwischen jene, den Obrigkeiten in den A*** krochen und so selbst jede Würde verloren. Heute in Zeiten der angestrebten Gleichstellung scheint Würde keine Rolle mehr zu spielen.
"Die Würde des Menschen ist unantastbar" Dieser Leitsatz ist das Fundament aller Grundrechte. Trotzdem wird die Würde des Menschen tagtäglich verletzt; auch in Österreich, Deutschland, der Schweiz ... Man braucht nur einen Blick in die Zeitung zu werfen. Ich habe den Eindruck, dass wir uns erst mit Würde auseinandersetzen, wenn wir sie bedroht sehen, wie etwa in der Pflege oder wenn es um das Sterben geht. Ist Würde im Alltag tatsächlich so selbstverständlich geworden?
Wie ist es mit unserer eigenen - inneren - Würde? Hören wir in uns hinein.
"Deine Würde entscheidet" titulieren Udo Baer und Gabriele Frick-Baer ihr Buch. Untertitel: "Finde den inneren Kompass für ein gutes Leben". Sie sprechen vom Würde-Ich, einer inneren Instanz, die sich meldet, wenn unsere Grenzen überschritten werden.
Würde ist keine Eigenschaft, auch kein Wert. Ich verstehe unter Würde eine Haltung, die wir unseren Mitmenschen - aber auch uns selbst - entgegenbringen. Eine Haltung der Offenheit, Wertschätzung und des Respektes. Gegensätze der Würde sind die Entwürdigung und die Demütigung. Ich glaube, es gibt niemanden unter uns, der nicht entwürdigende Erfahrungen durch ein System oder durch Mitmenschen gemacht hat. Doch behandeln wir uns selbst immer würdevoll?
Selbstwert ist en vogue, obwohl der Begriff aus meiner Sicht paradox ist. Wert und Würde widersprechen sich. Ein Wert ist bezifferbar. Meine Wohnung, mein Auto, mein Laptop, meine Schuhe - all diese Dinge haben einen Wert, der sich in einen Gegenwert ausdrücken lässt. Hat mein Laptop einen Makel, ist er weniger wert oder Schrott. Die Menschenwürde ist ein Recht, das von Geburt an existiert und zwar unabhängig von Herkunft, Status, Geschlecht, Hautfarbe, Gesund- oder Krankheit, Alter, etc. Dasselbe gilt für meine innere Würde, die auch die Namen Selbstwertschätzung, Selbstachtung, Selbstakzeptanz, Selbstbewusstsein, Selbstmitgefühl und Respekt trägt. Unser Selbstwert-Dilemma beginnt also mit den Gedanken "Ich bin etwas wert, weil ...". Würde braucht kein Weil, keine Begründung, aber ein Verständnis.
Wir kennen Situationen, in denen sich unsere Würde ganz deutlich zeigt. Das sind jene Situationen, in denen wir sagen: "Jetzt reicht es!" oder "Es ist genug". Wenn ich zu diesen Schlüsse komme, so wurden meine Grenzen bereits mehrfach überschritten.
Denn die Würde äußert sich oft leise, diffus, zum Beispiel mit einem schlechten Nachgeschmack, einem unbehaglichen Gefühl, in Unruhe, einem schlechten Gewissen ohne offensichtlichen Grund oder auch in Gefühlen, die uns (scheinbar) plötzlich überfallen, über die wir uns vielleicht sogar wundern. Es ist lohnenswert, sich auf Spurensuche zu begeben: Was hat dieses Gefühl, den schlechten Nachgeschmack ... ausgelöst? Was könnte dahinterstecken? Was hat mich irritiert, geärgert, verletzt, getriggert ... und warum? Was wünsche ich mir stattdessen? So lernen wir uns selbst besser verstehen.
Beim Lesen des Buches und selbst beim Schreiben des Artikels ertappe ich mich immer wieder bei der Frage: "Bin ich zu sensibel?", doch es geht nicht darum der Welt Böswilligkeiten zu unterstellen oder sich auf Krawall zu bürsten, sondern darum, die eigene Würde wahrzunehmen und einen Schritt beiseite zu machen. Es geht darum, mit sich in Kontakt zu kommen, sich selbst zu verstehen und erst dann die richtigen Schritte zu tun. Ich bin überzeugt, dass ich von meiner inneren Würde sehr viel lernen kann und sie mir eine gute Wegweiserin in meinem Leben ist.
"Du glaubst wohl, du bist was Besseres", sagte meine Mutter bei jedem Widerspruch. Ich habe ihren beleidigten und gleichzeitig herabwürdigenden Tonfall noch immer im Ohr. GsD ist die Zeit der Würdenträger in dieser Form vorbei. Auch haben wir die Wahl, ob wir uns dem Neid und der Missgunst hingeben oder für mehr Würde in unserem eigenen Leben eintreten.
Das Wesen der Würde ist es, auf Augenhöhe zu agieren. Echte Würde kennt weder Wettbewerb noch Hierarchie. Baer schreibt: "Es geht darum, zu würdigen was und wer man ist. Die Kostbarkeiten der eigenen Person ebenso, wie das Recht auf Achtung, das jedem Menschen gebührt." In diesem Sinne ist es nicht notwendig, weder sich über andere zu erheben oder diese zu erniedrigen, noch braucht es Vergleiche.
Wer sich selbst achtet, kann auch andere Menschen besser achten.
Hand aufs Herz: Wie oft wird uns erst im Nachhinein klar, wie schön, intensiv, wertvoll ... Momente sind. Einen Moment zu würdigen, bedeutet diesen Moment meine volle Aufmerksamkeit und Wertschätzung entgegen zu bringen. Die Selbstoptmierungsindustrie will es anders und tatsächlich gibt es immer ein Schöner, Weiter, Schneller, Intensiver, Geiler, ein - verflucht - Was-auch-immer-was. Manchmal gewinne ich den Eindruck, das Leben scheint ein Wettlauf um noch mehr Glück geworden zu sein. Dabei laufen wir Gefahr, am Glück vorbeizurennen.
Ein kleines Beispiel: Ich gehe mit meiner Hündin auf dem Berg. Natürlich muss ich dokumentieren, wie sie ihr erstes Gipfelkreuz sieht (was ihr definitiv vollkommen egal ist). Also hänge ich meine hippelige Begleiterin zum Kreuz und versuche perfekte Fotos von ganzem Gipfelkreuz inklusive ganzem Hund hinzubekommen. Ich ärgere mich. Erst als wir wieder aufbrechen, realisiere ich die herrliche Abendstimmung. Ohne meine Fotomission hätten sowohl ich als auch Frau Hund mehr davon gehabt. Weniger wäre in diesem Fall wohl mehr gewesen...
Ein anderes Beispiel: Würdigen was ist, heißt, wahrzunehmen, was bereits da ist. "Das hätte ich vor 5 Jahren nicht gewagt", sagte ein Kursteilnehmerin; überrascht und sichtlich stolz.
Ein Ziel nach dem anderen soll erreicht werden. Oft stecken wir uns dabei die Latte zu hoch, viel zu hoch und fühlen uns miserabel, wenn wir ein Ziel nicht erreichen. Dabei leistet jeden Tag sehr viel. Es lohnt sich, darauf zu schauen, was wir bereits erreicht haben.
Was zum Beispiel war vor 5 oder 10 Jahren undenkbar für dich und ist heute 'normal'? Dieses Hinschauen erfüllt mich immer wieder mit Zufriedenheit und hilft mir dabei, meine Ziele mehr und mehr gelassener und realistischer zu stecken, auch wenn manches auf dem Weg dahin unbequem sein wird.
Haiku aus meinem Journal
Der stolze Baum am Horizont
trägt jetzt Früchte.
Ernte-Würde-Tag.
Seine Würde zu bewahren und sie als Wegweiser zu sehen, das setzt den Mut voraus, manchmal Entscheidungen zu treffen, die nicht Mainstream sind. Manchmal ist es notwendig, klare Worte zu finden und Unangenehmes anzusprechen. Und manchmal muss man sich von Menschen trennen, die unsere Würde missachten. Es ist leicht, vorgefertigte Wege zu gehen. Ob es erfüllend ist, das steht auf einem anderen Blatt. Auch wenn das würdevolle Leben uns viel abverlangt, die eigene Würde und damit auch die Gefühle zu unterdrücken hat einen weitaus höheren Preis.
Schreibe einen Brief an deine innere Würde. Erzähle ihr, wo bzw. wie du sie wahrnimmst, und wofür du sie schätzt. Vielleicht gibt es etwas, was du ihr schon immer sagen oder auch fragen wolltest. Schreibe es auf.
Schreibe es mir gerne in das Kommentar, ich freue mich über deinen Beitrag.
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