Alles steht still, nichts bewegt sich, nichts passiert um mich herum. Stillstand. Ich atme ein und aus, versuche mich leer zu machen. Gedankenleer. Ich suche das Nichts. Dann passiert etwas: Ich horche in meinen Körper hinein, höre zu, spüre die Wärme, spüre es brodeln in mir, in meinem Kopf.
Meine Gedanken wandeln, wirbeln und wuseln wild durcheinander, wie die Ameisen auf den Haufen, den die letzten Strahlen der Herbstsonne noch wärmen. Wie die Ameisen tragen auch meine kleinen Gedanke große Gedanken mit sich. Angeblich können Ameisen das 100fache ihres Körpergewichtes tragen. Doch die Mathematik sagt, so einfach sei es nicht. Denn, das Gewicht und die Masse steigt mit der dritten Potenz der Länge, während hingegen der für die Kraft ausschließlich maßgebende Querschnitt eines Muskels nur im Quadrat der Länge wächst. Alles klar? Meine Gedanken verkrümmen sich zur Quadratur, versuchen Zahlen zu formen, um die tatsächliche Kraft der Ameisen zu erfassen. Am Ende siegt die Erkenntnis: Ich habe Mathematik noch nie gemocht.
Wenn nichts passiert - oder besser gesagt nichts passieren soll - habe ich Mathematik im Kopf. Ich versuche mit Mathematik einzuschlafen. Ein Schäfchen, zwei Schäfchen ... 25 Schäfchen, beim 105ten und gefühlten 505ten passiert dann doch etwas. Ich stehe auf, mache mir einen Kräutertee, schnappe mir ein Buch und beginne zu lesen. Nachtruhe und Schäfchenzählen ade.
Was passiert, wenn nichts passiert? Ich atme wieder ein, versuche mich auf das Nichts zu fokussieren, meinen Gedankenlärm zum Stillstand zu zwingen. Zwang? Zwecklos! Auf Zwang reagierte ich schon immer mit Trotz. Obwohl meine pubertäre Energie nachgelassen hat und ich mich nicht mehr wild stampfend und schnaubend gegen Alles auflehne, habe ich doch eine hellwache rebellische Stimme in mir. Zum Glück!
Nichts kann man erzwingen, auch nicht das Nichts. Also lasse ich meine Gedanken los, stelle mir vor, sie wären Wolken, die mit dem Wind vorüberziehen. Schwerelos. Leicht. Ob darin die Schäfchen verborgen sind, die mich nicht schlafen lassen, frage ich mich während ich die Augen schließe und meine Nase in die lachende Herbstsonne strecke.
Was passiert, wenn nicht passiert? In meiner Tagträumerei schnappe ich mir eine Wolke, halte sie fest, blicke dahinter, und suche es wieder, das Nichts. Ich atme tief durch, schaue zurück auf die letzten Monate, in denen viel passiert ist und doch wiederum nichts.
Hoppla, ist es da versteckt, dieses Nichts, das mich unruhig suchen lässt? Nichts passiert ist auf meinen Social Media Profilen. Zwei Monate lang hatte ich nichts gepostet. Nein, es ist doch was passiert: Ich habe trotzdem neue Follower bekommen und es sind nicht nur zu gut aussehende Männer mit überdimensionalen Bizep und Waschbrettbauch. Bizep, Waschbrettbauch und die Männer - alles nur Fake. Sind Waschbrettbäuche zwischen Reels und Stories überhaupt noch in? Ich versuche mich abzulenken, nicht hinzuschauen, nicht zu fühlen, dieses verfluchte Nichts aus schlechten Gewissen, Unsicherheit, gewürzt mit Angst.
Dann ist es passiert, die all umfassende Frage des Nichts ist da: Habe ich in den letzten Monaten zu wenig getan für Social Media? Für mein Business? Für mich? Wie furchtlose Tiger starren mich diese Frage an, bereit gegen mich zu kämpfen. Auf ihrer Seite ist der Algorithmus, der meine letzten Postings in das Nirvana der Unsichtbarkeit geschossen hat. Der Algorithmus, ein nimmersattes sich ständig wandelndes Wesen. Und wie sagte schon meine Mutter: Von Nichts kommt Nichts. Die mahnende Stimme meiner Mutter im Ohr, die mahnenden Headlines der Social-Media-Gurus und Algorithmus-Päpste vor Augen frage ich mich zu allen Überfluss: Ist dieses Nichts ein Muss oder nichts muss?
Da eilt mir meine innere Rebellin zu Hilfe, zeigt mir eine lange Nase und flüstert mir keck ins Ohr: "Algorithmus-Sklavin, Algorithmus-S..." Am Ende siegt die Erkenntnis: Ich habe Mathematik noch nie gemocht.
Essay, entstanden aus dem Schreibimpuls des Montags-Schreibinars.
4 Kommentare
ich mach dein Nichts. Nichts ist schön. Und Nichts ist gut. Wer behauptet, es sei anders?
Liebe Grüße, Edith
welch wundervoller Artikel! Ich habe ihn mit Freude gelesen. Ich mag Mathematik - aber mit dem Nichts kämpfe ich leider auch immer wieder. ;-)
Liebe Grüsse, Silvia
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